Objekt des Monats Juni 2025 ‒ Tischglocke
Während sich die Fahrradklingel anhaltender Beliebtheit erfreut, ist die Tischglocke nur noch ganz selten im modernen Alltag vorzufinden. Damit dieses interessante Requisit nicht gänzlich in Vergessenheit gerät, soll es Objekt des Monats Mai 2025 sein.
Wer einen frühen Großhandelskatalog hiesiger Provenienz aufschlägt, wird über die Fülle an lautgebenden Erzeugnissen erstaunt sein. So fanden u. a. Stimmpfeifen, Xylophone und Lyren aus den regionalen Werkstätten Eingang in die Musterbücher des bekannten Grossisten Carl Zimmermann und von hier aus ihren Weg in die Welt. Daneben verschafften sich Mehlis und Zella St. Blasii mit der Fabrikation von Alltagsglocken Gehör. Tonangebend war die 1821 gegründete Firma „Schilling & Söhne“, die 1900 mit der „W. Kührt & Schilling“ zur „Vereinigten Thüringer Metallwarenfabrik AG“ verschmolz und mit der Fa. Heinrich Wißner in harten Konkurrenzkampf treten sollte. Dieser brachte vor Ort eine üppige Glockenvielfalt zur Blüte.
Deckblatt eines Katalogs des Grossisten Carl Zimmermann in Mehlis
Werbeanzeige der Vereinigten Thüringer Metallwarenfabriken AG
Neben Haustürglocken, Korridorglocken und Schlittengeläuten erlangte mit der Popularität des Fahrrades ab 1890 auch die Fahrradglocke ihre erste Daseinsberechtigung. Der Glockenklang war ein den Alltag der vorletzten Jahrhundertwende wesentlich mitbestimmendes Geräusch. Auch die Tischglocke tat dazu ihr Übriges. Deren Funktionalität lässt sich nicht auf ein einziges Einsatzgebiet reduzieren, schon ihre Bauweise als bewegliches Objekt gab vielen Anwendungsmöglichkeiten Raum. Wie die Grundform ihre Artverwandten auch, bestand sie aus einem galvanisch vernickelt oder verzinnten Glockenmantel aus Eisen, der durch einen mechanisch in Bewegung gesetzten Klöppel im Inneren des Korpus zur Abgabe des akustischen Signals in Schwingung versetzt wurde. Unterschiedliche Legierungen versprachen Unterschiede in der Klangqualität, was ihre Einsatzflexibilität noch weiter erhöhte. Ganz wesentlich diente ihr Erklingen in der Gastronomie und Hotellerie der gründerzeitlichen Epoche zur Anzeige persönlichen Bedarfs bei Bestellung, Zimmeraufbereitung oder Beschwerde. Das ersparte den persönlichen Gang zum Bediensteten und entsprach eher der Etikette als das Wort.
Die antike Tischglocke, die im Stadtmuseum in einer nachgestellten Szenerie zu sehen ist, wurde einst verwendet, um das Personal durch die weiß behandschuhte Hand der Hausherrin anzurufen.
Auch in den gehobenen Haushalten der Bourgeoisie nahm sie ihre Arbeit auf. Für den Hausherrn war sie ein Regulativ vor ungebetenem Besuch, die Einnahme von Mahlzeiten wurde mit ihr getaktet und Anordnungen fanden nicht selten in Tonabfolgen den Weg in die Ohren der Hausangestellten, was sie als kleines Herrschaftsutensil in Familie und Hausstand auszeichnete. Beim Geldadel wurde dies durch eine gestalterische Opulenz unterstrichen, hinter der ihre Funktion fast zu verschwinden drohte. So sind in Wißners Produktlisten Stücke abgebildet, die als Kleinkunstwerke Beachtung finden würden, wobei florale Elemente des Jugendstils oftmals Kombinationen mit figuralen Motiven der Antike oder aber Symbolen der deutschen Kaiserzeit eingingen. Doch auch außerhalb elitärer Kreise erfuhr sie gesellschaftliche Verbreitung. Man denke an die Stammtische oder das Vereinswesen mit ihren lautstarken Sitzungen, in denen die Anwesenden häufig durch den Klingelton zur Räson gebracht, Tagesordnungspunkte tonal unterstrichen und der Ausschank freigegeben wurden.
Eine besonders schöne Tischglocke in Form einer römischen Frauenstatue.
In der Ausstellung des Stadtmuseums sind diese drei wunderschönen Tischglocken aus Zella-Mehliser Produktion zu sehen.
Ihren sicherlich größten Beitrag aber leistete sie in den Ladengeschäften der sich ausdehnenden Städte. Anders als im modernen Warenzyklus gingen zwischen 1850 und 1930 Fertigung und Verkauf der Produkte im Ladengeschäft häufig eine Symbiose ein. Trat der Kunde ein, fand er einen kleinen Verkaufsraum vor, hinter dem in einer Werkstatt an den Auslagestücken gearbeitet wurde. Die Personalunion aus Hersteller und Verkäufer machte die Notwendigkeit eines akustischen „Verbinders“ im Raum notwendig, eine Aufgabe, die die Tischglocke bewerkstelligte. Filmmaterial urbanen Treibens der vorletzten Jahrhundertwende mit seinen unzähligen Ein-Mann-Manufakturen belegt, dass Zella-Mehlis auch ihr Prosperität zu verdanken hatte. Das frühe 20. Jahrhundert darf dabei schon als ein spätes Stadium ihrer Wirkmächtigkeit gelten.
Ersonnen im späten 18. Jahrhundert, gewann ihr Existenzzyklus ab 1850 an Fahrt, erreichte den Kulminationspunkt um 1900–1930 und verlor dann merklich an Vitalität. Woran lag das? Die Fahrradklingel hat die Zeiten überdauert und findet noch heute in ursprünglicher Form am Zweirad Einsatz. Haustürglocken wurden fast vollständig durch elektronische Modelle abgelöst, den Korridorglocken schenken nur noch aus der Zeit Geschlagene ein Ohr und dem Schlittengeläut fehlt nach dem Siegeszug des Automobils schlichtweg der Schlitten.
Deckblatt eines Katalogs der Vereinigten Thüringer Metallwarenfabriken AG, der in fünf Sprachen (deutsch, englisch, italienisch, spanisch und französisch) verfügbar war
Mehrsprachige Seite eines Katalogs der Vereinigten Thüringer Metallwarenfabriken AG
Der Bedeutungsverlust der Tischglocke ist demgegenüber vorrangig veränderten gesellschaftlichen Konventionen geschuldet. In sich demokratisierenden Staatsgefügen, die durch eine Verflachung hierarchischer Strukturen, die Wertangleichung aller Lebens- und Arbeitsverhältnisse und die Auflösung mechanistischer Tagesabläufe gekennzeichnet sind, wird die Existenz eines Utensils mit der Befehlswirkung einer Hundepfeife kaum noch geduldet. Auf einen gebietenden Glockenklang lässt man sich schlichtweg kaum noch ein. Auch macht es ein gewachsenes Scham- und Rücksichtnahmegefühl heute nicht leicht, seine Zeitgenossen mit akustischen Signalen in Bewegung zu setzen. Addiert man hierzu die zunehmende Auflösung strikter Familienbande, denen sie vielfach als ein ordnendes Hilfsmittel zur Seite stand, wird ihr Abdrängen in Museen verständlicher.
Der moderne Gastronom ist heute auch viel eher zur Proaktivität veranlasst, die eine initiale Geste des Gastes entbehrlich macht. Die skizzierten Handwerksstätten gibt es im modernen Warenverkehr nicht mehr. Personal ist überall ausschließlich mit dem Verkauf beschäftigt und der Kunde wird, wenn er sich nicht ohnehin beim Türöffnen elektroakustisch ankündigt, überall wahrgenommen.
Die Einsatzfelder der Tischglocke sind daher sporadisch gesät, allenfalls an der Hotelrezeption wird ihr noch ein Dasein zugebilligt und zwischen Küche und Schankraum kündet ihr Klang von der Fertigstellung der Gerichte. Insgesamt aber ist ihr das gesellschaftliche Fundament weggebrochen, in einer Zeit, in der das „Gehorchen“ keinen Anklang mehr findet. Sie ist damit ein Ausdruck der vorletzten Jahrhundertwende, die noch durch starke Unterordnungsstrukturen im Miteinander gekennzeichnet war. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts schleicht sich ihre Fabrikation dann auch zunehmend aus. Wer besonders reichhaltig verzierte Exemplare bestaunen möchte, stattet dem Stadtmuseum Zella-Mehlis einen Besuch ab. (ad)