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Objekt des Monats September 2023 – Kunstfahrrad
Unser Objekt des Monats widmet sich einem besonderen Kapitel der Wirtschafts- und Sportgeschichte von Benshausen. Es handelt sich um eines von zwei im Heimatmuseum erhaltenen Fahrrädern des einst in Benshausen sehr erfolgreichen Kunstradsports aus heimischer Produktion. Doch zunächst zur Vorgeschichte.
Nachdem der lange Zeit lukrative Weinhandel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stark zurückgegangen war, mussten sich die Benshäuser neuen Erwerbszweigen zuwenden, um der zunehmenden Verarmung zu entgehen. Diese Notzeit veranlasste vor allem junge Männer, sich Kenntnisse und Fertigkeiten in bisher ortsfremden Berufen anzueignen, z.B. in der Kleineisenindustrie und der Waffenherstellung. Sie absolvierten eine Lehre in entsprechenden Betrieben im Umkreis von Schmalkalden, in Zella St. Blasii und Mehlis sowie in Suhl, besuchten Berufs- und Fachschulen und in der Folge entwickelte sich eine umfangreiche und vielfältige Produktion von Gebrauchsgegenständen, Kleineisenwaren, Waffen- und Fahrradteilen. Insbesondere das Fahrrad entwickelte sich zu einem für fast jedermann erschwinglichen Fortbewegungsmittel, was auch die Entwicklung des Radsports in Benshausen förderte. In den Jahren 1902 und 1904 kam es mit der Gründung des RV „Fidelio“ und des Arbeiter-Radfahrer-Vereins „Frisch Auf“ Benshausen zu ersten Zusammenschlüssen von Radsportbegeisterten und es wurden Wanderfahren, Kunstradfahren, Reigenfahren und Radball gepflegt.
Zur Erinnerung an das 2. Stiftungsfest des Radfahrer-Vereins „Frisch auf“ Benshausen am 10. Juni 1906 (Aus: G. Kämpf, Turnen und Sport in Benshausen, 2021)
Werbung für die erfolgreichen Kunstradfahrer Wilhelm Furch und Alfred Jäger (Sammlung Heimatmuseum Benshausen)
Im weiteren Verlauf der Geschichte bis zum Verbot aller Arbeitervereine durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 kam es zu weiteren Vereinsgründungen, -zusammenschlüssen und -auflösungen. Nähere Informationen hierzu finden sich in der Publikation „Turnen und Sport in Benshausen“ von Gerhard Kämpf. Auch die beiden seit dem Tag des offenen Denkmals 2023 neu gestalteten Informationstafeln im Heimatmuseum Benshausen geben Auskunft über die erfolgreiche Geschichte des Radsports im Ort.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die Radsportler in der 1946 gegründeten Sportgemeinschaft „Fortuna“ eine neue Heimat. In den folgenden Jahren folgten weitere Gründungen verschiedener Betriebssportgemeinschaften, teilweise auch mit Radsportabteilungen, die sich vor allem dem Saalradsport widmeten.
In dieser Zeit ging es vor allem darum, neue Bekleidung und Sportgeräte zu beschaffen sowie geeignete Räumlichkeiten für die sportliche Betätigung zu finden; die Radsportler fanden im Saal des „Deutschen Hofes“ eine Bleibe.
Zu den neu angeschafften Fahrrädern gehören auch die beiden Saalmaschinen aus der Produktion der Suhler Firma Simson, die sich in der Sammlung des Heimatmuseums befinden. Dabei handelt es sich um sogenannte Kunsträder, die speziell für diesen Sport entwickelt wurden.
Besondere Merkmale der Kunstfahrräder sind die starre Verbindung zwischen Hinterrad und Pedal, es gibt also keinen Freilauf für die Pedale. Außerdem gibt es keine Bremsen, kein Licht, keine Schutzbleche und auch eine Gangschaltung sucht man vergeblich.
Keine Gangschaltung, kein Freilauf oder Rücktritt. Die Übersetzung erfolgt direkt mit gleich großen Zahnrädern.
Simson ist die Kurzbezeichnung eines ehemaligen Waffen- und Fahrzeugherstellers, der im Laufe seiner Geschichte mehrfach umstrukturiert und umbenannt wurde. Das ursprüngliche Unternehmen wurde 1856 von den jüdischen Brüdern Löb und Moses Simson in Suhl gegründet. Nach der Enteignung der jüdischen Eigentümer durch die Nationalsozialisten 1935 und der Umstellung der Produktion auf Rüstungsgüter firmierte das um mehrere Betriebe erweiterte Werk ab Anfang 1939 als "Wilhelm Gustloff Werke, Nationalsozialistische Industriestiftung".
Bereits 1945 wurde die Produktion von Jagdwaffen, Kinderwagen, Dreirädern und Fahrrädern unter dem alten Namen Simson wieder aufgenommen. 1946 wurde der Betrieb Teil der sowjetischen Aktiengesellschaft „Awtowelo“ und bis 1949 gingen Simson-Fahrräder als „Reparationsleistung“ in den Export oder an Behörden (Bahn, Post, ...). Erst danach wurde auch für den Binnenmarkt produziert. 1952 wurde das Unternehmen aus der Sowjetischen Aktiengesellschaft ausgegliedert und verstaatlicht. Die Fahrradproduktion lief bis 1957 und wurde Mitte dieses Jahres eingestellt. Seine heutige Bekanntheit erlangte Simson durch die in der DDR in großen Stückzahlen produzierten Zweiräder. Mit insgesamt fast 6 Millionen produzierten Mopeds war Simson der größte Hersteller von motorisierten Zweirädern in Deutschland.
Firmenschild an einem der Fahrräder
Das Firmenschild unserer Fahrräder, das deutlich die Bezeichnung „Simson u. Co / SAG Awtowelo / Simson / Suhl“ erkennen lässt, weist darauf hin, dass sie vermutlich zwischen 1940 und 1952 aus Suhl bezogen wurden. Möglicherweise war dieser Erwerb das Ergebnis „guter Beziehungen“, denn nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige Benshäuser Betriebe enteignet und als Betriebsteile in „Simson“ bzw. den späteren VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Suhl eingegliedert. Dazu gehörten z.B. die Firmen Edmund Hemming und Justin Popp, wo Keilgetriebe, Rahmen, Rennpedale, Pedalhaken, Bowdenzug-Stoßbremsen, Sattelstützen und anderes Zweiradzubehör hergestellt wurden.
Zu DDR-Zeiten wurde in Benshausen der Saalradsport, insbesondere das Kunstradfahren in verschiedenen Varianten gepflegt.
Vizemeister bei der Deutschen Meisterschaft 1963 (Sammlung Heimatmuseum Benshausen)
Diese Sportart stellt vor allem hohe Anforderungen an die koordinativen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Sportlers. Die präzise Ausführung der einzelnen Bewegungsabläufe, die anmutige Körperhaltung und die turnerischen Elemente, untermalt mit einer selbst gewählten Musikbegleitung, machen die Ästhetik und Faszination dieser Sportart aus.
Das Kunstradfahren kennt vier Fortbewegungsarten: das Fahren auf zwei Rädern (Niederradfahren) vorwärts und rückwärts und das Fahren auf dem Hinterrad (Steigerfahren) vorwärts und rückwärts.
Die Wettkämpfe im Kunstradfahren werden in verschiedenen Disziplinen ausgetragen:
- Einer-Kunstradfahren, bei dem nur ein Sportler auf dem Rad sitzt,
- Zweier-Kunstradfahren, bei dem ein Teil der Übungen synchron von zwei Sportlern auf zwei Rädern und ein zweiter Teil des Programms von zwei Sportlern auf einem Rad gezeigt wird,
- Vierer- und Sechser-Kunstradfahren (auch Reigenfahren genannt), bei dem nur eine Übung synchron hinter- oder nebeneinander gefahren wird.
Das Einer- und Zweier-Kunstradfahren ist mit dem Geräteturnen vergleichbar. Es beinhaltet Sprünge, Gleichgewichts-, Kraft- und Halteübungen. Eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Ausführung ist das instabile Fahrrad. Das Vierer- und Sechser-Kunstradfahren ist dagegen eher mit dem Synchronschwimmen zu vergleichen, bei dem es vor allem auf die gleichmäßige und synchrone Ausführung der Übungen durch alle Sportlerinnen und Sportler ankommt. (ls)
Seit kurzem informieren zwei neue Schautafeln über die Geschichte und Erfolge der Benshäuser Radsportler
Glossar
Museum
"Ein Museum ist eine nicht gewinnorientierte, dauerhafte Institution im Dienst der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Öffentlich zugänglich, barrierefrei und inklusiv, fördern Museen Diversität und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und partizipativ mit Communities. Museen ermöglichen vielfältige Erfahrungen hinsichtlich Bildung, Freude, Reflexion und Wissensaustausch."
ICOM-Museumsdefinition 2023